Eine Erzählung über vergessene Lieder und den Überfluss des lebenden Körpers
by Lynhan Balatbat-Helbock
Der Musiker ist das Dokument. Er ist die Information selbst. Die Wirkung gespeicherter Informationen wird nicht durch Aufzeichnungen oder Archive vermittelt, sondern durch die menschliche Reaktion auf das Leben. Und diese Reaktion ist ständig, überall in der Luft, eine Alternative, die für diejenigen, die Ohren haben, um zu hören, ständig verfügbar ist [1].
– Ben Sidran
Es beginnt wie es endet, mit einer Einladung, dieser Erzählung von Liedern zu lauschen, die in unserem kollektiven Gedächtnis verankert sind. Vor nicht allzu langer Zeit haben sich unsere Vorväter und Mütter versammelt, haben beschworen, gesummt, den Körper und seine Ausläufer rhythmisch aktiviert und gemeinsam für uns gesungen. Dies ist ein kurzer Bericht über die Zeiten, in denen mundartliche Versammlungen eine ernste Angelegenheit waren, und die Spuren dieser Versammlungen sind ebenso schöne Erinnerungen wie Zeugnisse der gemeinsamen Zukunft ihres Volkes. Es ist ein Versuch, die klanglichen Komponenten im Archiv unseres kollektiven Gedächtnisses zu verstehen, welche wir bereits lange vor dem einschränkenden Signifikant «Musik» lebendig erlebt haben. Wenn sich die conditio humana nicht auf Etiketten und Hashtags reduzieren lässt und Feste, Rituale und klangliche Aktivierungen nicht nur der flüchtigen Unterhaltung dienen, dann stellen sie vielmehr grundlegende Praktiken bei der Bildung von Gemeinschaften und ihrer Kultur dar. Der Musikwissenschaftler Kofi Agawu schreibt: «Wenn man heute über afrikanische Musik schreibt, dann ist das fast per Definition ein Schreiben gegen eine frühere Literatur» [2].
- Die Erfindung des Todes[3]
Musikwissenschaftler*innen und Autoren*innen stehen vor einzigartigen Herausforderungen aufgrund der umfangreichen und invasiven Geschichte der europäischen Schriften über Afrika im Allgemeinen und die Musik im Besonderen. Diese Schriften wurden von Entdecker*innen, Missionar*innen, Gelehrten und Anthropolog*innen aus ihrer eigenen eingegrenzten Perspektive verfasst. Viele dieser Texte sind durchdrungen von Vorurteilen, herablassender Sprache und dem unreflektierten exotisierenden Blick auf afrikanische Kulturen zum Zwecke des Konsums durch ein westliches Publikum. Eine unappetitliche Mischung aus der Zumutung, dem «Unbekannten» zu begegnen, und narzisstischen Selbstfindungsbestrebungen hat die westliche Musikliteratur durchzogen und wird sie auch weiterhin prägen. Eines der erfolgreichsten Unterfangen des Kolonialismus war es, ganze Gemeinschaften nicht nur ihrer materiellen Artefakte, sondern auch ihres immateriellen kulturellen Erbes und ihrer Wurzeln zu berauben.
Die Mainstream-Medien und der zeitgenössische Kanon der Musiktheorie sitzen bequem an den verschlossenen Schwellen zu Klangarchiven und imperialen Klangsammlungen. Der unzureichende Zugang zum eigenen klanglichen Erbe ist gleichbedeutend mit der Nichtexistenz der Praktiken, die daneben existierten. Diese Praxis des zum Schweigen bringens spiegelt die fortbestehenden Machtstrukturen wider, die entscheidend dafür sind, dass traditionelle Klänge, ihre Technologie und Sichtbarkeit im Schatten des allgemeinen Kanons bleiben. Kulturelle Artefakte und Spuren von Ritualen und Darbietungen, die auf Wachszylindern und später mit anderen Extraktionstechnologien aufgezeichnet wurden, wurden aus Ländern auf der ganzen Welt mit dem Anspruch der Bewahrung entwendet, jedoch nie wieder zurückgegeben.
Über einen Zeitraum von etwa fünfhundert Jahren hatte das verwerfliche Unterfangen der Europäer*innen, sich Gebiete in Afrika und darüber hinaus anzueignen, erhebliche Auswirkungen auf den Kontinent und die Welt im Allgemeinen. Obgleich dieser Zeitraum im Vergleich zu den Millionen Jahren der Existenz des Kontinents und seiner Rolle als Geburtsstätte des menschlichen Lebens relativ kurz erscheinen mag, sind die Auswirkungen dieser Ereignisse bis heute spürbar. Vor allem der Kolonialismus hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die verschiedensten Aspekte des afrikanischen Lebens, darunter Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Religion. Da alle Aspekte des Lebens durch dieses kollektive Trauma beinflusst sind, sind auch die kulturelle Produktion und die künstlerischen Ausdrucksformen hiervon stark betroffen. Diese Zeit wird oft als eine kritische und transformative Phase in der Geschichte Afrikas angesehen, da sie tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte, die den Kontinent bis heute prägen. Berücksichtigt man die vielen Jahre der Besetzungen und Annexionen, so muss man den Zeitrahmen des Kolonialismus vor dem Kampf um Afrika auf der Berlin-Kongo-Konferenz 1884-1885 weiter fassen. Kofi Agawu führt aus, dass «über Kolonialismus zu sprechen bedeutet, von Ereignissen zu sprechen, welche von institutionellen Praktiken und Diskursen beeinflusst wurden, die während dieser 73-jährigen Periode eingeführt wurden. Der formellen Aufteilung gingen jedoch mehrere Jahrhunderte des Kontaktes der Europäer*innen mit den zunächst an der Küste und später im Landesinneren lebenden Afrikaner*innen voraus, was zu Einflüssen auf Religion, Kultur und Bildung führte»
[4].
- Was wir nicht sahen [5]
Phantasie, wer kann deine Kraft besingen? Oder die Hurtigkeit deines Verlaufs beschreiben? Du schwebst durch die Lüfte, um den strahlenden Ort zu finden, Den himmlischen Palast des donnernden Gottes, Auf deinen Trieben können wir den Wind überflügeln, Und lassen das wogende All hinter uns: Von Stern zu Stern schweift das geistige Auge, den Himmel zu messen und die Welten zu erforschen. Dort erfassen wir mit einem Blick das mächtige Ganze, Oder neue Welten verblüffen die grenzenlose Seele.
– Phillis Wheatley, On Imagination [6]
Die Macht der Phantasie gibt uns nicht nur ein Instrument an die Hand, welches uns von der willkürlichen Gewalt einer vorübergehenden Welt befreit, sie ist auch der einfachste und manchmal einzige Weg, sich selbst zu befreien. Die Fiktion ist ein Werkzeug, welches keine Grenzen kennt und dazu benutzt werden kann, den zerbrochenen Frieden wiederherzustellen. Andererseits dient sie auf diese Weise auch dazu, die Menschen durch die Ausführung der imaginären Expansion, des Anspruchs, der auf der Konstruktion der vermeintlichen westlichen Überlegenheit beruht, in ihrer Situation zu halten. Nicht zufällig werden die Geschichten hinter diesen Objekten und Artefakten absichtlich verborgen gehalten, vor allem in westlichen Institutionen. Wie in jedem dieser gewalttätigen Kanons bilden auch die Kunst und die Musik keine Ausnahme, wenn es darum geht, Spuren nicht-westlicher Praktiker*innen und den Mythos des Weissseins als Quelle aller Inspiration aufrechtzuerhalten. Genres wie Klassik, Jazz, elektronische oder zeitgenössische Musik sind in ihrer Darstellung überwiegend heteronormativ. Eines der vielen Beispiele ist die musique concrète – elektroakustische Musik, die aus aufgenommenen Klängen besteht -, die auf Pierre Schaeffer zurückgeht, der den Begriff 1948 prägte[7]. In seinem Tagebuch 1948/9, erschienen im Jahr 1952 in der Aufsatzsammlung «À la recherche d‘une musique concrète», beschrieb Schaeffer die Klänge und die Art und Weise, wie er sich vorstellte, mit ihnen zu arbeiten, als «Symphonie der Geräusche» [8] . Doch vier Jahre vor Schaeffers «Cinq Etudes des Bruits» komponierte ein ägyptischer Student in Kairo eines der ersten bekannten Stücke elektronischer Tonbandmusik mit Hilfe eines Tonbandgeräts [9] . Viele sind der Meinung, dass der Musikwissenschaftler Halim El Dabh ein Pionier der elektronischen und experimentellen Musik war, doch trotz seiner internationalen Karriere bleibt sein Vermächtnis bemerkenswerter Weise nach unbekannt.
III. Die Invasion durch die Zukunft [10]
Klang ist in der Lage, Grenzen zu ignorieren, sich über nationale Grenzen oder Grenzziehungen oder willkürliche Geografien hinwegzusetzen. Er hat die Eigenschaft, zu kontaminieren, zu inspirieren und mit sich ständig wiederholenden Rhythmen im Äther unseres Seins zu verweilen. Zuhören ist ein Akt der Höflichkeit, eine Übung, die Sinne nach aussen zu richten, weniger in den eigenen Wünschen und Visionen zu verweilen, sondern zuzustimmen, zu empfangen.
…mehr als alles andere ist die Beschreibung einer Erfahrung des Zuhörens. Es muss jedoch noch einmal betont werden, dass ich mich hier nicht auf den Sinn des Hörens allein konzentriere. Um die ästhetische Bedeutung der hier untersuchten Werke zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass diese mehrere Sinne und Organe mobilisieren (Gehör, Stimme, Blick, Berührung und darüber hinaus Bewegung und Energieströme). Nichts ist komplexer, als das Nonverbale zu verbalisieren oder den Klang zu beschreiben, der im Grunde genommen weder sprachlich noch eine rein spontane Ausübung der Sprache ist. Die ästhetische Interpretation geht davon aus, dass das Sinnesmaterial durch das, was man als Klangereignis bezeichnen könnte, reorganisiert wird, und zwar in demselben Prozess, durch den das Klangereignis die Vorstellungskraft befreit. Ein solches Vorgehen versuche ich hier[11].
In diesem Sinne kann der Akt des Zuhörens als eine Gabe verstanden werden, die Positionalität erfordert: «Was wir fordern, ist, dass die hegemonialen Diskurse, die Träger*innen des hegemonialen Diskurses, ihre Position de-hegemonisieren und selbst lernen, die Subjektposition des anderen einzunehmen» [12] Positionalität ist von entscheidender Bedeutung, was jedoch nicht bedeutet, dass nur eine bestimmte Gruppe übrig bleibt, um die Trümmer aufzusammeln und das, was genommen wurde, wiederherzustellen. Wie Bonaventure Soh Bejeng Ndikung in seinem bahnbrechenden Essay «Das globalisierte Museum? Dekanonisation als Methode: Eine Reflexion in drei Akten», dass «Dekanonisierung die Möglichkeit bietet, das Innenleben des Kanons – ob aus dem Westen, Osten, Norden oder Süden – zu demaskieren und zu enthüllen. Dekanonisierung ist die Möglichkeit, den Kanon dehnbarer zu machen, indem man Werke von Indigenen, PoC, LGBT-Personen und Menschen aus «anderen» Geografien einbezieht und diese Neuzugänge nicht nur durch die Augen der Werke sieht, die den Kanon bereits füllen [13]». Die mühseligen Versuche, Othering-Muster zu verlernen und ein Klangarchiv zu dekolonisieren, müssen von einer Vielzahl von Mitstreiter*innen getragen werden, die versuchen, rassistische Praktiken in Kultur, Kunst, Gesellschaft und Musik zu dekonstruieren. Einander zuzuhören und die Anwesenheit des anderen anzuerkennen, bedeutet, den Leerräumen entgegenzuwirken, in die man bei der Suche nach der eigenen klanglichen Nabelschnur zu fallen droht. Bei diesem Versuch hört man auch auf die Zukunft, die zu uns zurückschallt und die wir mit jedem Zentimeter, den wir nehmen oder geben, formen. Verstummte Klänge und Stimmen wieder hörbar zu machen, bedeutet, eine befreite Welt ausserhalb des starren Korsetts westlicher kanonischer Annahmen zu schaffen. Die fortlaufende menschliche Klangschöpfung ist eine Verkörperung des Reichtums der Vergangenheit. Und dem lebendigen Körper des Gemeinsamen zu erlauben, gehört zu werden und zu gedeihen, bedeutet, in der Fülle der Zukunft zu leben.
von Lynhan Balatbat-Helbock,
Übersetzung: Antonia Mädel
1. Ben Sidran, BLACK TALK (1980, foreword p.15). ↩
2. Kofi Agawu, The African Imagination in Music (2016, p. 16). ↩
3. Title inspired / from Songs of Enchantment by Ben Okri (1993) ↩
4. Kofi Agawu, Representing African Music -Postcolonial Notes, Queries, Positions (2003) ↩
5. Title inspired / from Ben Okri, Songs of Enchantment (1993) ↩
6. in Poems on Various Subjects, Religious and Moral by Phillis Wheatley, published 1 September 1773. ↩
7. Pierre Schaeffer, A La Recherche D’une Musique Concrète (Paris: Éditions Du Seuil, 1952). ↩
8. Ibid. ↩
9. Fari Bradley, Halim El Dabh – An Alternative Genealogy of Musique Concrète (2015) ↩
10. Title inspired / from Ben Okri, Songs of Enchantment (1993) ↩
11. Achille Mbembe „Variations on the Beautiful in the Congolese World of Sounds“ in Dans Politique africaine 2005/4 (N°100), pages 69 à 91 ↩
12. Gayatri Chakravorty Spivak, The Post-Colonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues, ed. Sarah Harasym (New York: Routledge, 1990). ↩
13. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, THE GLOBALIZED MUSEUM? DECANONIZATION AS METHOD: A REFLECTION IN THREE ACTS (2017, in Mousse Magazine 58) ↩
Lynhan Balatbat-Helbock is co-executive managing director at S A V V Y Contemporary Berlin and is part of the participatory archive project Colonial Neighbours. She received her MA in Postcolonial Cultures and Global Policy at Goldsmiths University of London and moved to Berlin in 2013. In her work within the permanent collection of SAVVY Contemporary she looks for colonial traces that are manifested in our present. The collaborative archive dedicates itself to discussing silenced histories and to the decanonization of the Western gaze through objects and the stories behind them. In close collaboration with artists, initiatives and activists, the archive is activated through hybrid forms of practice. She assisted the management for the documenta14 radio program – Every Time a Ear di Soun, SAVVY Funk in Berlin (June – July 2017) and supported the artist Bouchra Khalili with several projects and exhibitions (May 2015 – May 2016 / June 2021 -May 2022). She worked on a yearlong research project on Julius Eastman in a collaboration between SAVVY Contemporary and the Maerzmusik festival (Berliner Festspiele, March) and co-curated the exhibition program HERE HISTORY BEGAN. TRACING THE RE/VERBERATIONS OF HALIM EL-DABH (2017–2018/2020-2021). In 2018 she produced Agnieszka Polska ś commission for the Germany’s National Gallery Prize show in the Hamburger Bahnhof in Berlin (September 2018-March 2019). Lately she curated the yearlong project Monumental Shadows – Rethinking Heritage, a participatory project in public space knocking colonial figures off their pedestal and shifting the shadows of past and present. This year she is curating Wer Wir Sind in the Bundeskunsthalle in Bonn as well as this years´edition of the Lantz´sche Skulpturenpark in Düsseldorf.