in collaboration with MUSEUM RIETBERG
guerillclassics
presents
A Project by Sinzo Aanza

Echo aus dem Archiv. Über die Politik des Entarrangierens und des Remixens als Akt der Selbsterzählung.

Von Billy Fowo

Es gibt keine Vergangenheit, es gibt keine
Zukunft, nur die Gegenwart!
Wenn du improvisierst, ist das das Jetzt!
Diesen Moment hat es noch nie gegeben,
er wird nie wieder da sein,
und du willst ihn nicht wiederholen …
… aber während du spielst, merkst du, dass er
schon gespielt wurde.

– Abdullah Ibrahim

Jede neue Konfiguration enthält Unmengen der alten. Ich sehe das Neue nicht als völligen Bruch mit der Vergangenheit, sondern immer als Rekonfiguration der Elemente der Vergangenheit mit einigen Elementen, die neu sind. Jedes Mal, wenn das geschieht, erfordert es einen Wechsel der Perspektive. Manchmal einen Paradigmenwechsel.

– Stuart Hall

 

Angesichts der Tatsache, dass Fragen zur Restitution immer mehr Raum einnehmen und der Diskurs sich ständig verschiebt und sich dabei auf materielles Kulturgut fixiert, oftmals um einer bestimmten – meist westlich geprägten – Agenda zu entsprechen, ist es wichtig, dass wir unser Verständnis von Kulturgut und Erinnerung weiter ausbauen und unseren Blick auf das Immaterielle erweitern. Allerdings sollten wir nicht in die Falle tappen, das Materielle dem Immateriellen gegenüberzustellen. Vielmehr sollten wir eine ganzheitlichere Betrachtungsweise anstreben, da in den häufiger als dargestellten Fällen das Subjekt und das Objekt nie getrennt voneinander betrachtet werden sollten.

In den folgenden Zeilen werde ich einige meiner Überlegungen zum Thema Klang, zu Klangarchiven im Allgemeinen und insbesondere zu denen aus der Kongoregion, welche für dieses Projekt relevant sind, darlegen.

Echo I – Klang benötigt keine Erlaubnis

In einem kürzlich geführten Gespräch mit dem Klang- und Recherchekünstler Lawrence Abu Hamdan machte er mich auf einen vielleicht bekannten, aber wesentlichen Aspekt des Klangs aufmerksam: die Fähigkeit des Klangs, sich fortzubewegen oder «durchzusickern», wie er es im Rahmen seiner Recherchearbeit beschrieb. Klang bittet, vielleicht mehr als viele andere Medien, nicht um Erlaubnis. Er hallt nach, wandert, durchdringt und setzt sich über geografische Beschränkungen und soziale Konstrukte hinweg. Obwohl die Praxis des «Studiums» so genannter «Weltkulturen und Weltmusiken» bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, ermöglichte die Entwicklung von Aufnahmetechniken im späten 19. Jahrhundert die Entstehung der Ethnomusikwissenschaft1 , sowie dass diese immer grössere Proportionen annahm. Dies führte zur Aufzeichnung von Klängen, Liedern – für manche heilig, intim und Träger von Kultur und Wissen -, die in den kolonialen Archiven landeten und heute in zumeist ethnographischen Museen, aber auch und zu einem Teil in Privatsammlungen verwahrt werden. Vor dem Hintergrund der so genannten «Aufklärungsbewegungen» und trotz dieses Versuchs, die Menschen und Klänge unter dem Deckmantel des «Studierens» gefangen zu halten, sorgten diese Klänge für eine gewisse Kontinuität. Und einer der Wege, auf dem dies geschah, war das «Durchsickern», das Durchsickern in benachbarte Räume, das Durchsickern durch Migrationsbewegungen, sei es gewaltsam oder freiwillig, in unterschiedliche Geographien.

Echo II – Congo Square. Eine Nabe der Improvisation

Von Klang als etwas Reinem und frei von äusseren Einflüssen zu sprechen, wäre sehr naiv. In einer Zeit der Digitalisierung und des leichteren Zugangs zu Musik und Einflüssen aus aller Welt ist es vielleicht wichtiger denn je, die vielfältigen Strömungen anzuerkennen, die die verschiedenen Musikgenres, die wir heute kennen, durchziehen und bestimmten Geografien zuordnen.

Als ich in Kamerun aufwuchs, war die offensichtliche und klare Verbindung zwischen bestimmten Aspekten im Kongo und in Kamerun unbestreitbar. Nicht nur, dass beide Länder eine gemeinsame Grenze hatten, sondern auch sprachliche Gemeinsamkeiten, die in der Musik noch deutlicher hervortraten. Es kommt sehr oft vor, dass man, verloren im Rhythmus des Beats, ein Wort oder einen Satz in Lingala falsch hört und es mit Duala assoziiert. Beide Sprachen haben die gleiche Intonation, beide Sprachen haben fast die gleiche Struktur in Bezug auf Grammatik und Syntax, aber vor allem bieten beide Sprachen die sehr weichen, beruhigenden und groovenden, «jammenden» Eigenschaften, die nur wenige Sprachen haben, wenn sie zum Komponieren von Musik verwendet werden. Es gibt eine nicht erschöpfende Liste von Musiker*innen aus dem Kongo und Kamerun, die entweder zwischen den beiden Ländern hin- und hergereist sind und in beiden Ländern gearbeitet haben, oder sich einfach voneinander bedient haben. Die Verbindung zwischen dem Kongo und Kamerun ist vielleicht ein Thema für eine andere Zeit oder einen anderen Text, aber was uns hier interessiert, ist, «wie Fragmente bestimmter für den Kongo typischer Musikstile ihren Weg in Musikgenres nicht nur in Kamerun, sondern noch viel weiter weg gefunden haben». Nicht, dass jedes Land einen eigenen Stil bräuchte, aber wenn man einen ausmachen müsste, dann wäre es im Kongo zweifellos die berühmte Sebene-Gitarre, die ihren Weg in die kamerunische Makossa fand, sich über den Ozean verbreitete und in Genres wie dem Zouk Eingang fand. Es ist aber sehr wichtig zu erwähnen, dass Sebene ein Genre ist, das aus der zeitgenössischen Rumba hervorgegangen ist, die ursprünglich aus dem Kongo «durchsickerte», als die Versklavten gewaltsam entführt und nach Amerika deportiert wurden [2], und später als sogenannte kubanische Rumba zurückkehrte, die ein Synkretismus aus afrikanischen Kulturen, karibischen Kulturen und spanischem Flamenco[3] war. Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass Musik und Klang sich schon immer bewegt haben, und die Klanglandschaft, die wir heute als die des Kongo kennen, ist eine, die von Einflüssen aus verschiedenen Geografien geprägt ist, eine, die als «neue Konfiguration, die Unmengen der alten enthält» geboren wird, wie Stuart Hall im Stuart Hall Project [4] erklärt.

Aber wenn wir schon von Synkretismus sprechen, gehen wir ein paar Jahrhunderte zurück, zu einem Ort namens Congo Square. Dieser Platz in NewOrleans war ein Treffpunkt für versklavte und befreite Sklav*innen. Er war nicht nur ein Ort der Zusammenkunft, sondern auch ein Ort, an dem sich die Menschen trafen und singen konnten, und diente als Zentrum der Improvisation. Die Kulturen und insbesondere die Klänge der versklavten Afrikaner*innen, die nach der haitianischen Revolution von überall her sowohl als aus Haiti kamen, vermischten sich, informierten und bereicherten sich gegenseitig, und aus diesem synkretistischen Akt entstand der Jazz, der seinem Wesen nach eine Musik der Konjunktion ist, wie John Akomfrah in einem Interview erklärt. Das Jazz entstand aufgrund der besonderen Umstände, die aus diesen Zusammenkünften, z. B. auf dem Congo Square entstanden sind. Man könnte sagen, dass Jazz als Genre nicht nur die Fähigkeit zur Improvisation voraussetzt, sondern eigentlich aus der Notwendigkeit heraus geboren wurde, miteinander in Beziehung zu treten.

Echo III – Über das Ent-arrangieren und Remixen

Eine der grundlegenden Fragen, die sich auch heute noch stellt, ist die nach nach dem Zugang von Klangarchiven. Diese Archive, die unter sehr problematischen Bedingungen entstanden sind und nun in westlichen Institutionen als Geiseln gehalten werden, sind für die Gemeinschaften, denen sie entnommen wurden, grösstenteils unzugänglich.

Obwohl einige dieser Regionen heute unter dem Mangel an diesen Archiven leiden, verschwinden die Klänge und die Musik aus diesen Regionen nie ganz. Wie wir in den beiden vorangegangenen Echos gehört haben, hat der Klang nicht nur die Fähigkeit, «durchzusickern» und sich über Geografien hinweg zu bewegen, er kreist auch zurück und nährt die Musikproduktion, die in diesen Regionen stattfindet. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein Musikgenre wie die Rumba vom Kongo nach Kuba und zurück in den Kongo gelangt ist. Wurde diese Bewegung in früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten vor allem durch die Bewegung von Menschen über diese verschiedenen geografischen Gebiete hinweg ermöglicht, so ist dies heute vor allem durch das Digitale möglich, und zwar aufgrund der Stellung, die die Technologie einnimmt. An dieser Stelle möchte ich einen vielleicht hypothetischen Grund anführen, der das Überleben dieser Klänge ermöglicht hat, den es aber womöglich zu untersuchen lohnt. Ich glaube, dass Klangkünstler*innen, vor allem Musiker*innen und DJs, durch ihre Praxis, diese Klänge zu entwirren und neu zu mischen, immer noch die Möglichkeit bieten, diese Klänge zu fragmentieren und neu zu konfigurieren, was vielleicht ein interessanter Aspekt sein könnte, den es zu untersuchen gilt. Obwohl der Prozess der Fragmentierung und Rekonfiguration das Risiko der Vermischung, der falschen Etikettierung und des Missverständnisses birgt, bleibt er eine mögliche Lösung gegen das Gatekeeping dieser Klänge in den Archiven des Westens, da er Raum für die Kontinuität dieser Klänge und Genres bietet, wenn auch vielleicht nur als Fragmente, aber zumindest innerhalb eines Rahmens, der selbstbestimmt sein kann.

 

von Billy Fowo,

Übersetzung: Antonia Mädel

1. www.britannica.com/science/ethnomusicology

2. www.radiofrance.fr/francemusique/musiques-du-monde/la-rumba-congolaise-la-musique-des-independantistes-et-des-sapeurs-5041956

3. ich.unesco.org/fr/RL/la-rumba-cuba-mlange-festif-de-musiques-et-de-danses-ettoutes-les-pratiques-associes-01185#:~:text=La%20rumba%20%C3%A0%20Cuba%20 a,les%20communaut%C3%A9s%20d‘esclaves%20africains.

4. The Stuart Hall Project, 2013 by John Akomfrah.

Billy Fowo (1996, Cameroon) is a curator and writer based in Berlin.
Very much grounded in the idea of the Laboratory, for Billy, rethinking and stretching the idea of the exhibition as a format, forms an essential part of his research and curatorial approach. With points of interest in various fields and disciplines such as the sonic, linguistics and literature, Billy questions through his practice what is considered knowledge and the spaces in which we find knowledge. He is currently a curatorial candidate at the prestigious DeAppel program in Amsterdam.

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