Die Bedeutung der Humanisierung eines afrikanischen Tonarchivs
Von Atiyyah Khan
Die Frage der afrikanischen Tonarchive bleibt auf dem Kontinent ein Mysterium. Das liegt an mangelndem Zugang, welcher wiederum zu einer grossen Wissenslücke geführt hat. Für diejenigen unter uns, die auf der Suche nach Wissen sind, ist die Schliessung dieser Lücke zu einem wesentlichen Ziel geworden.
In meiner eigenen Klangpraxis einer in Südafrika lebenden Musikjournalistin, DJ, Archivarin und Plattensammlerin ist dies ein nie endender Prozess des Lernens und dessen, was man am besten als Ausgraben beschreiben kann – das ständige Finden von Hinweisen, welche uns tiefer in einen Prozess führen. Aus der Sicht einer DJs bezieht sich das Wort «Crate-Digging» auf das Durchsuchen endloser Kisten mit verstaubten Platten, um die seltenste zu finden. In meinem eigenen Fall geht es dabei jedoch fast immer um die Suche nach afrikanischen Klangarchiven.
In früheren Tagen, als ich erstmals als Musikjournalistin arbeitete, war es klar, dass Informationen über Black Music fehlten, und es war sehr schwer, Informationen selbst über die jüngeren Entwicklungen zu finden. In den örtlichen Bibliotheken gab es nur Musikliteratur, die von Europäer*innen verfasst worden war, und es gab nur sehr wenige Forschungsarbeiten von afrikanischen Wissenschaftler*innen. Im Falle Südafrikas war die Apartheid einer der Hauptgründe dafür – aufgrund der ständigen Zensur und der akustischen Kontrolle von Black Music.
Das bedeutete, dass ein anderer Ansatz gefunden werden musste, und der einzige Weg, wirklich etwas über die Vergangenheit zu erfahren, war durch mündliche Überlieferungen. Wahrlich eine anspruchsvolle Aufgabe mit einer grossen Verantwortung! Jahre später, als DJ, öffnete sich die Welt der Musik durch das Sammeln, Kuratieren, Hören und Studieren von Schallplatten noch mehr. Ursprünglich konzentrierte ich mich auf das Auflegen von Jazz und das Sammeln von Musik aller Genres – doch schon bald wurde mir klar, dass es ein höheres Ziel für mich gab. Ich erkannte, dass nur sehr wenig über unsere eigene Musik, aber auch über die des restlichen afrikanischen Kontinents bekannt war, weil wir so lange vom Rest des Kontinents getrennt waren. Ich machte es mir zur Aufgabe, mein Wissen auf jede erdenkliche Art und Weise zu erweitern, aber durch den sehr organischen Prozess des Zuhörens und Studierens. Die Ergebnisse waren bemerkenswert und offenbarten so viel! Bei der Suche nach afrikanischen Aufnahmen fand ich nicht nur einige der besten Musikstücke, die ich je gehört habe, sondern ich erfuhr auch so viel über Ort, Kultur, Politik, Zeit, Raum, Sprache und Menschen. Bei meinen Recherchen bin ich noch einen Schritt weiter gegangen und habe mir angesehen, was als «Library Records» oder «Field Recordings» von «afrikanischen Stämmen» gilt. Dies sind höchst umstrittene und problematische Begriffe, die kultivierte Afrikaner*innen als exotische Objekte zur Schau stellen. Um der Bildung willen habe ich dies jedoch zu einem Schwerpunkt meines eigenen Lernens gemacht, der bis heute fortbesteht.
Wo befinden sich diese Archive?
Historisch gesehen wurde afrikanische Musik nicht im westlichen Sinne aufgezeichnet, da es dafür keine Notwendigkeit gab. Afrikaner*innen bewahrten ihre Klänge durch mündliche Traditionen, die von Generation zu Generation über Jahrhunderte weitergegeben wurden. Erst als die Menschen aus dem Westen nach Afrika kamen, entstand der Wunsch und die Forderung nach einer Dokumentation dieser Klänge. Das ist auch der Grund dafür, dass viele dieser Studien nach wie vor in Obskurität getaucht und denjenigen vorbehalten sind, die Zugang zu Universitäten und akademischen Einrichtungen haben. Ich bin jedoch der Meinung, dass dieses Wissen für alle zugänglich sein sollte, und es ist unsere Pflicht, dieses Wissen in erster Linie den Menschen in Afrika zugänglich zu machen.
Beim Stöbern in Kisten stiess ich auf diese alten Aufnahmen, die alle bestimmte Hinweise und Gemeinsamkeiten aufwiesen. Es handelte sich beispielsweise um ein Album mit seltenen ethnischen afrikanischen Klängen, aufgenommen und übersetzt von einem weissen Forscher, Dokumentaristen oder Gelehrten, der die Initiative ergriff, diese Musik aufzunehmen und zu bewahren. Auf dem Cover ist fast immer eine indigene afrikanische Person abgebildet, die für die Musik wirbt. Es gibt Tausende und Abertausende solcher Schallplatten, von denen viele unglaublich teuer oder gar unauffindbar geworden sind. Eine der ersten Aufnahmen, die in meine Sammlung gelangte, war das Album «Africa: Shona Mbira Music – recorded in Mondoro and Highfields Rhodesia» von Paul Berliner aus dem Jahr 1977. Berliner ist ein amerikanischer Ethnomusikologe, der viel in afrikanischen Musikarchiven gearbeitet hat. Als dann einer Shona-Künstlerin das Album gezeigt wurde, bestätigte sie jedoch, dass viele der Interpretationen der Geschichten und Texte auf der Rückseite der Platte (die für die Hörenden als Tatsachen dargestellt werden) grösstenteils falsch und unvollständig waren. Dies ist nur ein Beispiel für ein häufiges Problem vieler afrikanischer Archive: Die mangelnde Fähigkeit von westlichen Zuhörenden, die Botschaft hinter der Musik vollständig zu erfassen, weil sie aufgrund ihrer eigenen Defizite durch Sprache und kulturelle Missverständnisse nicht dazu in der Lage sind. Ganz in meiner Nähe und schon seit langem von Interesse war die ILAM – die International Library of African Music. Das, was das Smithsonian als «die grösste Sammlung afrikanischer Musik in der Welt» bezeichnet, ist die 1954 gegründete Sammlung des Historikers und Tonarchivars Hugh Tracey. Das Archiv befindet sich derzeit in der Stadt Makhanda (früher Grahamstown) im Ostkap, einer abgelegenen Stadt, die für viele Südafrikaner*innen unerreichbar ist. Das Archiv reicht bis ins Jahr 1929 zurück und umfasste auch ein Tonjournal. Der Grossteil der Sammlung konzentriert sich auf die Musik der afrikanischen Länder südlich der Sahara.
Ich lernte Hugh Tracey durch die Linse eines akustischen Kolonisators kennen, also eines Menschen, der den Afrikaner*innen Klänge abnahm – doch die Geschichte ist etwas komplexer. Eine Zeit lang sammelte ich alle ILAM-Platten, die ich finden konnte – aber im Juli letzten Jahres reiste ich nach Makhanda und führte ein Interview mit Andrew Tracey, dem Sohn von Hugh Tracey, dem Gründer der Bibliothek. Ein ausführliches Interview brachte alle Grauzonen der Geschichte ans Licht. Andrew Tracey sprach sehr detailliert über die Mühen, die sein Vater auf sich nehmen musste, um in die ländlichsten und entlegensten Gebiete zu gelangen, um diese obskuren und seltenen afrikanischen Musiken aus dem ganzen Kontinent aufzunehmen. Er nahm mich mit in die innere Bibliothek des Zentrums und zeigte mir die frühesten Aufnahmen und spielte auch einige einheimische Instrumente aus ihrer Sammlung, die inzwischen ausgestorben sind.
Ein Beispiel für eine Aufnahme von der ILAM ist «Democratic Republic of Congo and Angola: Various Artists ILAMTR036A (1957)», beschrieben als: Chokwe-Lieder und -Tänze mit verschiedenen Trommeln aus der Demokratischen Republik Kongo und Angola. Diese von Kelch- oder KegelTrommeln begleiteten Tänze wurden in Bergbaugebieten in der Demokratischen Republik Kongo und Angola aufgenommen, wohin die Chokwe zum Arbeiten gegangen waren.
Eine weitere Aufnahme ist «Songe topical songs – Various Artists: ILAMTR020 (1957)». Beschrieben als: Ngoi Nono, Kabongo Anastase und mehrere Freunde, die ihren Gesang auf zwei Gitarren, einer geschlagenen Flasche und einer Rassel begleiten. Sie sind Songe, aus dem Kabongo-Gebiet im Süden der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Einerseits können wir vieles an Hugh Tracey und seinen Methoden kritisieren, aber andererseits haben wir jetzt einige Tonaufnahmen, die wir anhören und mit denen wir arbeiten können. Der grösste Wert dieses Archivs liegt vielleicht darin, dass es noch auf afrikanischem Boden liegt. Ich weiss von keinen anderen Ton- und Musikarchiven im übrigen Afrika, obwohl ich sicher bin, dass es sie geben muss. Doch das grösste Problem, mit dem sich viele von uns derzeit konfrontiert sehen, ist – und damit komme ich auf das Thema des Zugangs zurück -, dass sich die meisten dieser Aufnahmen, Artefakte und Tonarchive in verschiedenen Teilen der westlichen Welt befinden.
Ein Beispiel ist das Wiener Phonogrammarchiv in Österreich – das erste Tonarchiv der Welt, welches 1899 von Mitgliedern der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften gegründet wurde. Die Sammlung umfasst über 67 000 Aufnahmen. Es bewahrt eine grosse Sammlung von Ton- und Bildmaterial in über 250 Sprachen aus Afrika – die frühesten Tonaufnahmen einer afrikanischen Sprache stammen aus dem Jahr 1905. Darüber hinaus enthält die Sammlung Objekte, Fotografien, Filme, handschriftliche und veröffentlichte Dokumente sowie Bücher.
In der westlichen Welt gibt es noch viele weitere solche – aber sie sind für uns nicht zugänglich. Man müsste dorthin reisen und Zeit damit verbringen, sich das Archiv anzuhören und wir haben mit Visaund finanziellen Beschränkungen zu kämpfen. Sie bleiben unerreichbar, und die Wissenslücke wird immer grösser. Selbst mit Hilfe einer gewissen Digitalisierung sind die meisten dieser Archive nur für Gelehrte oder Akademiker*innen zugänglich.
Afrikanische Tonarchive müssen in ihre Heimat zurückkehren und zuerst auf afrikanischem Boden existieren, bevor sie irgendwo anders auf der Welt existieren. In ähnlicher Weise müssen auch all die unschätzbaren Kunstwerke zurückgegeben werden, welche geplündert und gestohlen wurden und nun in Museen auf der ganzen Welt lagern.
Die wichtige Bedeutung des Ausgrabens
Da sich die meisten dieser Archive in Bibliotheken oder Universitäten ausserhalb Afrikas befinden, ist es für uns wichtig, zunächst ein afrikanisches Klangarchiv auf heimischem Boden aufzubauen und dann diese Musik zugänglich zu machen. Es gibt keine bessere Plattform als das Plattenauflegen («DJ-ing»), um diese Musik den Menschen zugänglich zu machen, und genau das habe ich in meine Auftritte integriert – einen Weg zu finden Vergangenheit und Gegenwart zu einer neuen Art des Hörens zu verschmelzen.
Warum ist es wichtig, afrikanische Klangarchive freizulegen? Zum einen verkleinert es die Lücke, die wir in unserer fehlenden Geschichte haben. Es ermöglicht uns auch, die falsche Darstellung der Vergangenheit durch die koloniale Linse zu korrigieren. Wir lernen dadurch mehr über Geschichte, Politik und Kultur. Aber sie zeigt uns auch, wie sich Klänge über Grenzen hinweg bewegten und sich in verschiedenen Regionen gegenseitig beeinflussten. Wenn wir uns zum Beispiel Gesänge aus dem südlichen Afrika anhören, können wir vergleichen, wie sie in den nördlichen Teilen Afrikas zu hören sind. Wenn wir die Musik aus dem Kongo untersuchen, können wir auch sehen, wie sich der Klang über die Grenzen hinweg bewegt hat und Teil der nationalen Identität einer anderen Musik geworden ist, insbesondere durch die Gitarre. Ohne zu diesen ursprünglichen Wurzeln zurückzugehen, ist es heute fast unmöglich nachzuvollziehen, wie eine bestimmte Musik entstanden ist und wo sie herkommt.
Unter den heutigen Umständen sind wir immer noch mit der Klanghegemonie des Westens als Urheber von Kultur und Musik konfrontiert. Von der klassischen oder Kunstmusik bis hin zu modernen zeitgenössischen Pop- oder Dancefloor-Sounds – die Geschichte der Black Music (durch Jazz, Dub, Rock ‘n’ Roll oder Techno) ist aus den modernen Mainstream-Diskussionen und der Frage, wie diese Sounds entstanden sind, fast verschwunden.
Dies zeigt mir einmal mehr, wie wichtig es ist, weiterhin nach neuen Erkenntnissen über afrikanische Musik und mündliche Traditionen in all ihren Formen zu suchen. Wie man lernt, zuhört, versteht und dann weitergibt – um dies für andere zu erschliessen und das Narrativ durch Schreiben und Journalismus zu verändern. Indem wir versuchen, zu verstehen und zuzuhören, versuchen wir, Mitgefühl für die Vergangenheit zu entwickeln, wir versuchen, das Unrecht zu korrigieren, und wir bieten einen Weg, die Vorfahren, welche vor uns kamen, zu vermenschlichen.
Von Atiyyah Khan,
Übersetzung: Antonia Mädel
Africa: Shona Mbira Music, 1977 (Photo by Atiyyah Khan)
Atiyyah Khan is an arts journalist, archivist, record collector and events curator from Johannesburg and based in Cape Town.
Since 2007, she has documented arts and culture and has been published in newspapers across South Africa. She was the 2010 Pulitzer Fellowship recipient for her masters studies at the University of Southern California.